Mittwoch, 25. März 2020

Besondere Zeiten

"Ohhh, was ist das für ein tolles, unwirkliches Licht", denke ich als ich heute morgen an meinem Esstisch sitzend hinaus in den Wald schaue. Alles im Haus ist ganz still, mein Mann ist bereits zur Arbeit gefahren, die Kinder befinden sich noch im Land der Träume. Einem Impuls folgend stehe ich auf, schnappe mir meinen Becher Kaffee und gehe hinaus auf den Balkon. Hui, kalt ist es heute früh - ich schlinge sofort meinen kuscheligen Cardigan noch etwas fester um mich. Atme die kalte, klare Luft ein. Herrlich. Die Vögel liefern heute früh ein wahres Vogelkonzert. Die Bäume schlagen auch hier mittlerweile aus, der Fliederbusch hat schon richtig dicke Knospen. Ein Frühlingsmorgen, wie er schöner kaum sein könnte. 










Und wie immer, wenn ein Tag so schön und vielversprechend beginnt werde selbst ich kleine Nachteule munter und überlege, was ich alles tolles heute machen kann. Ich könnte mal den Garten so richtig auf Vordermann bringen, mein Hochbeet bepflanzen und vorher dafür noch Saatgut im Blumenmarkt einkaufen gehen. Ich könnte aber auch mit den Kids in einen Tierpark fahren...obwohl ist doch ein bissel kalt draussen - vielleicht Schwimmbad? Wann war ich eigentlich das letzte Mal im Kino, ich wollte doch mit meinem Mann in diesen einen Film. Vielleicht wollen die Kids heute aber auch Freunde einladen. Vielleicht will ich heute mit einer Freundin Kaffee trinken? Sandra sollte ich unbedingt treffen,  damit wir unseren diesjährigen Städtetrip konkreter planen können. Und auch Tina und ich wollten dieses Jahr wieder was zusammen machen...aber erst im Herbst, sodass das Planen noch Zeit hat. Und dann ist da noch die Vorfreude auf meinen Ausflug mit der Mädelsclique. Sollen wir am Wochenende unsere andere Clique zum essen zu uns einladen? Wollten wir ja bald machen. Ich könnte....HALT! Ich kann nicht. Wir leben in Zeiten von Covid 19.  Es wird empfohlen,  alle sozialen Kontakte weitestgehend einzuschränken. Die Kinder haben keinen Kiga und keine Schule. Ergo wird der heutige Spielpartner das Geschwisterkind und ich sein - wieder einmal. 

Es sind schon seltsame Zeiten. Mir kommt es oft vor wie ein ganz schlechter Film. Surreal irgendwie - geht es euch auch so? Aber es ist real. Noch vor ein paar Wochen habe nicht im Traum daran gedacht, dass so etwas möglich wäre. In einem zivilisierten, wohlhabenden Land wie diesem mit guter Gesundheitsversorgung und ganz viel Freiheiten für jeden einzelnen. Aber nun leben wir plötzlich in Zeiten, in denen 2 Rollen Klopapier (sofern man überhaupt welche bekommt) ernsthaft im Supermarkt für 1,50€ verkauft werden und der Würfel frische Hefe auf einen pro Kunde begrenzt ist. Es sind Zeiten, in denen viele Menschen um ihre Existenz fürchten müssen, weil Läden, Restaurants, kulturelle Einrichtungen etc. geschlossen bleiben müssen. Es sind die Zeiten der Hamsterkäufe, die Menschen aus total egoistischen, unsozialen, dummen Gründen tätigen. Es sind Zeiten, in denen Kinder 5 Wochen keine Schule besuchen (falls es dabei bleibt) - beinahe soviel wie in den Sommerferien (und allein die letztgenannten zu überbrücken sind für berufstätige Eltern schon eine Herausforderung). Es sind Zeiten, in denen wir plötzlich nicht mehr so frei handeln und sein können, wie bisher. Es sind Zeiten in denen täglich steigende Zahlen von Infizierten - und leider auch Toten bekannt gegeben werden, es sind Zeiten in denen die Wirtschaft eine Vollbremsung hinlegt. Es sind Zeiten, in denen wir als Menschheit vor so grossen Herausforderungen (und Bedrohungen) stehen, wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr, nur ist diesmal der Gegner unsichtbar. Kurzum: es sind Zeiten, die einem ganz schön Angst machen können. Ausgang? Dauer? Ungewiss. 

Wie gesagt: Sie können Angst machen. Und ich würde lügen, wenn ich bestreiten würde, dass ich angesichts der täglichen neuen Situationen und Infos auch ein flaues Gefühl im Magen habe. Ja, ich mache mir natürlich auch Sorgen. Ich habe Menschen, die ich sehr liebe und um die ich mich sorge. Ich habe Menschen mit erhöhtem Risiko in meinem näheren Umfeld. Und doch weigere ich mich schlichtweg,  Angst zu haben. Angst hemmt, macht oft handlungs- und denkunfähig und kann schnell in Panik oder Hysterie ausufern. Aber schon allein wegen meiner Kinder möchte ich überlegt und besonnen agieren. Und so sage ich täglich fast mantramässig zu mir selbst: wir bleiben nicht zu Hause aus Angst. Wir bleiben zu Hause aus Mitgefühl, wir wollen niemand gefährden, nicht evtl. ungeahnt den Virus übertragen. Und mehr noch: ich habe für unsere Familie beschlossen, dass diese besondere Situation - mit Schulunterbrechung, social distancing etc. eine besondere Zeit für uns wird. Trotz allem Leid in dieser Welt, in diesem Land : eine besonders schöne Zeit. Denn jetzt haben wir mal wirklich viel Zeit miteinander. Kein Zeitdruck, kein Terminstress, keine Verpflichtungen, keinen überfüllten Kalender. Dafür ganz viel Zeit für das, was wirklich wichtig ist: für uns. Jeder für sich und wir alle zusammen .

Covid 19 zwingt uns alle, zu verzichten und auch das ein oder andere Opfer zu bringen. Selbst von den Kleinsten dieser Gesellschaft. Mein Sohn wurde letzte Woche 6 Jahre alt. Er konnte nicht mit seinen Freunden in Kindergarten feiern und daheim hatten wir nur eine sehr kleine, sehr intime, sehr schöne Feier. Und diese Tatsache hat mir noch etwas anderes bewusst gemacht: jede Krise hat auch bei all den schlimmen Seiten ( ich will da echt nichts beschönigen) etwas Gutes. 
Zum Beispiel, dass Du wieder spürst, auf wen du dich im Zweifel wirklich verlassen kannst. 
Zum Beispiel dass dir bewusst wird, wem du wirklich wichtig bist. 
Zum Beispiel, dass wir als Familie noch stärker zusammenwachsen können, als bisher schon. 
Zum Beispiel, dass plötzlich wieder Raum für Kreativität ist. 
Zum Beispiel, dass wir mehr können,  als wir uns selbst manchmal zutrauen. 
Zum Beispiel, dass man die kleinen Dinge wieder mehr zu schätzen weiß.  
Zum Beispiel, dass man auf einmal wieder wesentlich achtsamer ist, mit sich, mit seinem Umfeld, mit der Natur. 
Zum Beispiel, festzustellen, für was alles man dankbar sein kann (und da gibt es bei jedem Einzelnen eine Menge).

In dieser schnelllebigen Zeit bleibt oft zu wenig Zeit übrig, um sich Dinge bewusst zu machen, sich wahrhaftig austauschen zu können, intensiv zu leben, oder über grundlegende Themen nachzudenken. Nun haben wir alle eine Vollbremsung hinlegen müssen. Nun haben wir alle für all das (und noch viel mehr) Zeit.  

Fakt ist: wir werden diese Krise irgendwann überstehen. Vielleicht wird manches nicht mehr sein wie zuvor. Viele Firmen (da bin ich mir sicher) werden die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Zeit noch Jahre später spüren. Manche werden sich (zwangsläufig) völlig neu erfinden und durchstarten. Es kommt darauf an, wie wir als Mensch und als Gesellschaft mit der Krise umgehen.  

Krisen können als Chancen wahrgenommen werden ...

... sich auf das Wesentliche zu konzentrieren
... wertschätzender, bewusster und behutsamer miteinander umzugehen
... Kontakte und Freundschaften intensiver zu pflegen
... dankbar zu sein
... nicht alles als selbstverständlich zu sehen
... Mut zu haben, um neue Wege zu gehen 
...daran zu wachsen und über sich hinaus zu wachsen

Was ich nun also an diesem schönen Tag mit meinen Kindern gemacht habe? Wir haben unsere Aufgaben erledigt (Homeoffice, Homeschooling), dann habe ich Ihnen ihr Lieblingsessen gekocht und das Nachmittagsprogramm durften sie entscheiden. Sie haben sich dafür entschieden, dass wir zu unserer (glücklicherweise sonnigen) Lieblingsstelle im Wald gehen, dort picknicken und ich Ihnen eingemummelt in warme Decken vorlese. Das haben wir auch so gemacht, zwischendurch Quatsch gemacht, viel gelacht und über alles mögliche geredet. Damit waren sie schon überglücklich. Offensichtlich haben sie da vielen Erwachsenen was voraus: sich an kleinen Dingen erfreuen können 😉. 

Ich wünsche Euch und Euren Familien, dass Ihr gesund bleibt. Dass Ihr trotz allem Schrecken die Zuversicht nicht verliert und dass Ihr Euch dazu entscheidet, diese Krise als Chance zu sehen...beruflich oder privat 💛 ✊.



Alles Liebe
Natascha